Jan Svenungsson

"Schornsteine bauen", in: Norden, Kunsthalle Wien, Vienna 2000



Es ist das Jahr 2000. Gegenwärtig treffe ich Vorbereitungen für den Bau eines 15 Meter hohen Schornsteins aus Ziegelsteinen als dauerhaft Skulptur im Zentrum von Wien.

Um dieses Projekt vorzustellen, möchte ich die Geschichte von Anfang an erzählen. In den späten achtziger Jahren setzte ich mich mit den Möglichkeiten der Manipulation durch Bilderrahmen auseinander. Ich stellte spezielle Rahmen für gefundene Schwarzweißphotos her. Diese Rahmen isolierten z.B. bestimmte Teile des Bildes und veränderten somit die Bedeutung des ursprünglichen Photos. Ein Ziel war es, dem Photo das Offensichtliche zu nehmen, so daß der Betrachter sich über die eigene Position ins Klare kommen muß, bevor er urteilt.

Dann fing ich an, einen alten Industrieschornstein aus Ziegelsteinen, der im Herzen Stockholms stand, zu photographieren. Als ich seine reine Form mittels unregelmäßig gebauter Rahmen isolierte, entstanden merkwürdige und kraftvolle Objekte. Es war sehr interessant zu beobachten, wie diese Arbeiten rezipiert wurden: die Betrachter konnten sich nie ganz einigen, wofür sie standen. Niemand stimmte mit dem anderen überein – die Vorstellungen reichten von unterschiedlichen Interpretationen im Sinne Freuds, über eine Kritik oder auch Feier des Industriezeitalters, ein sublimes Bild der Vanitas bis hin zur Hölle der Konzentrationslager. Es war ein perfektes Bild, das unendlich manipuliert werden konnte und eine Vielzahl unterschiedlicher Reaktionen bei den Betrachtern – und auch bei mir – auslöste.

1992 war ich zu einer Ausstellung im Stockholmer Moderna Museet eingeladen. Ich schlug vor, nicht nur eine Installation aus den gerahmten Schornsteinfotos in meinem Teil des Ausstellungsraums zu machen, sondern auch, direkt vor dem Fenster, eine dreidimensionale ‘Repräsentation‘ dessen, was sie zeigten, zu bauen. Die Skulptur sollte zehn Meter hoch sein, etwas niedriger als das Gebäude selbst, um so, wie ich dachte, ihre Nicht-Funktionalität zu unterstreichen. Doch ich lag falsch: In den zwei Jahren, die sie dort stand, stellte ich fest, daß viele Menschen beim Betrachten der Skulptur nie auf die Idee kamen, daß sie es möglicherweise mit einem Kunstwerk zu tun hatten. Die Vertrautheit ihrer vorgefertigten Gestalt war stärker als ihre Nähe zu einem Museum für zeitgenössische Kunst, aber auch stärker als alle Details, die daraufhin hinwiesen, daß die Skulptur gar nicht als Schornstein fungieren könnte. Es war eine merkwürdige Erkenntnis: Ich hatte ein unsichtbares Monument geschaffen. Einige Tage vor der Eröffnung sprach mich ein Museumswärter an. Er machte sich Sorgen, daß wenn der Schornstein in Betrieb genommen werde, die Lüftungsanlage des Museums den Rauch einsaugen und alle wertvollen Gemälde zerstören würde!

Der ehemalige Direktor des Stockholmer Museums, Pontus Hulten, gehörte zu den wenigen, die den Schornstein als das erkannten, was er war. Er lud mich zur Teilnahme an einer großen Ausstellung ortsspezifischer Bildhauerei ein, die im Zentrum der Expo 93 in Taejon, Südkorea stattfinden sollte. Hulten wollte ausdrücklich, daß ich einen weiteren Schornstein baue. Nach einigem Zögern stimmte ich zu.

Die Konstruktion in Korea erwies sich als komplizierter als in Stockholm. Der wesentliche Unterschied war, wie ich bald feststellte, ein kultureller. In Korea würde meine Skulptur mit Sicherheit nicht auf die gleiche Weise interpretiert werden, weil es in Korea keine runden Industrieschornsteine aus Ziegelsteinen gibt. Die Industrieschornsteine sind alle aus Beton. Nach einiger Überlegung beschloß ich, bei der europäischen Form zu bleiben und dort eine neue Form einzuführen, statt meinen Bezug zu ändern. Später kehrte ich als Besucher zur Expo zurück und mischte mich in die Menschenmenge, die gekommen war, um sich die große Spannbreite futuristischer Visionen anzusehen. In der Mitte des Geländes befand sich unser Skulpturengarten, durch den viele Besucher gingen – aber niemand schien meine elf Meter hohe Skulptur zu bemerken. Wieder war sie unsichtbar, trotz des kulturellen Unterschieds.

Ende 1994, als ich mich in dem finnischen Ort Kotka umsah, wo im folgenden Sommer ein Skulpturenprojekt stattfinden sollte, entdeckte ich in der Ortsmitte ein großes, gelbes, funktionalistisches Wohngebäude, das neben einem leeren Grundstück stand. Kotka ist von hohen und voll funktionierenden Schornsteinen aus Ziegelsteinen umgeben – einige sind von dieser Stelle aus sichtbar. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen. Für mich war es logisch, daß ein dritter Schornstein, diesmal zwölf Meter hoch, errichtet werden sollte; das Wohnhaus hatte vielleicht eine Höhe von 25 Metern! Im Mai 1995 war der Bau beendet. Eine ältere Frau, die in dem gelben Gebäude wohnte, fragte eines Tages meine Arbeiter in einem ruhigen Ton, ob der Schornstein, den wir bauten, Teil eines neuen Krematoriums sei. Ich freundete mich mit einem Mann an, der auf der anderen Straßenseite wohnte. Er lud mich ein, die Arbeit von seiner Wohnung aus zu beobachten. Dort stellte ich fest, daß die Skulptur die Zeit messen konnte: sie wurde zu einer riesigen Sonnenuhr.

Der Vierte Schornstein wurde 1996 initiiert, als ich eingeladen war, die photographische Dokumentation meiner Schornsteinarbeiten auf einer internationalen Ausstellung zu zeigen, die jeden Sommer in dem kleinen Dorf Drewen, 100 km nördlich von Berlin stattfindet. Hierfür entwickelte ich ein imaginäres Projekt – so dachte ich jedenfalls – eine 13 Meter hohe Skulptur an einem ‘idealen‘ Standort mitten auf der Weide. Ich ahnte nicht, daß dieses manipulierte Bild einen Prozeß auslösen würde, der drei Jahre später, nach einigen Fehlstarts und einem Gerichtsverfahren, zur Vollendung der Skulptur führen sollte.

Leute in der Kunstwelt neigen dazu, dieses Projekt als didaktischen Bezug zur deutschen Geschichte der Jahre 1933-45 zu betrachten. Meine Position dazu ist, daß der Bezug zwar besteht, daß er aber nur einer von vielen ist. Meine Arbeit schließt kein Thema aus. Ich könnte behaupten, daß das Projekt einfach die Fortsetzung einer offenen Serie von Skulpturen ist, bei der jede einen Meter höher ist als ihre Vorgängerin. Sie werden je nach den Umständen unterschiedlich wirken, aber rein physisch bleiben sie einander ähnlich. Die Selbstreferenz der Serie ist somit zur stärksten Waffe geworden, potentiell subversive Positionen in der Realität einzunehmen. Im lokalen Kontext fand diese Diskussion um den Vierten Schornstein übrigens nicht statt. Es gab den Versuch, seine Errichtung per Gerichtsurteil zu stoppen, aber dies hatte mit einer Ablehnung von ‘moderner Kunst‘ zu tun. Im Laufe der Zeit habe ich viele Gespräche mit Leuten aus Drewen geführt, und der Bezug zur Nazizeit wurde kein einziges Mal erwähnt. Statt dessen schien die vorherrschende Interpretation Industriezeitalter versus ländliches Idyll zu sein. Wäre es im Westen anders gewesen?

Die Landschaft, die den Fünften Schornstein umgibt, könnte nicht unterschiedlicher sein. Dieser Schornstein entstand im öffentlichen Auftrag der Stadt Norrköping, einer der ersten industrialisierten Städte Schwedens. Schon Ende des 17. Jahrhunderts wurden dort Fabriken errichtet, die die Energie des Flusses , der die Stadt teilt, nutzten. In den 1960er und 70er Jahren endete der Wohlstand abrupt durch den Bankrott aller Industrieunternehmen. Ein großer Teil der Innenstadt verwandelte sich in eine Geisterstadt. Dieses Areal wurde in letzter Zeit renoviert und herausgeputzt für die Industrie der Zukunft, wie neu gegründete IT-Unternehmen und Institutionen der Universität. Heute ist es ein wunderschöner Ort; ein besonderes Panorama ist zum Wahrzeichen der Stadt geworden und gilt inzwischen als eine der meist photographierten architektonischen Ansichten Schwedens. Mein Schornstein befindet sich im Fluß, direkt im Zentrum dieses Panoramas.

Wie üblich arbeitete ich als Assistent eines Teams professioneller "Schornsteinbauer". Da ich vor Ort war, konnte ich mich mit den Passanten unterhalten. Die örtlichen Zeitungen machten viel Aufhebens um das Projekt, und dies verstärkte eine öffentliche Debatte, die zwischen denjenigen entfacht wurde, die sich über das Konzept und seine physische Erscheinungsform empörten, und anderen, die es aufgrund seiner Kühnheit liebten. Ein interessanter Aspekt, der sich in dieser Debatte ergab, war die Frage, wie man den Schornstein wahrnimmt: taucht er aus dem Wasser auf oder versinkt er darin – als Sinnbild für den Auf- oder Abstieg der Stadt.

Norrköping ist wie Kotka eine Stadt mit mehreren großen Schornsteinen. Viele Menschen wollten wissen, wie man den öffentlich finanzierten Bau eines weiteren rechtfertigt. Meine Antwort war, daß dieser Schornstein sich radikal von den anderen unterscheidet, daß er tatsächlich einzigartig ist. Während die vorhandenen funktionierenden Schornsteine gebaut wurden, um die Abfälle industrieller Produktion zu beseitigen, gehört mein Schornstein als erster voll und ganz dem Informationszeitalter. Er wurde einzig zu dem Zweck errichtet, Gedanken zu evozieren und die Phantasie anzuregen – das genaue Gegenteil der anderen Schornsteine in der Stadt.

Was ich durch diese Projekte gelernt habe ist, daß ich weder vorhersagen kann, wie meine Skulptur in ihrer neuen Umgebung wirken wird, noch was die vorherrschende Interpretation sein wird. Ich bin bemüht, den optimalen Standort für jedes neue Projekt zu finden, aber nach Fertigstellung der Skulptur ist es an ihr, neue Ideen auszulösen und Diskussionen anzuregen, auf eine Art und Weise, die mich überrascht. Und deshalb mache ich weiter.

Bis jetzt bin ich aus verschiedenen technischen Gründen noch nicht in der Lage zu entscheiden, an welcher Stelle der Wiener Schornstein genau stehen wird. Ich habe mehrere Alternativen ins Auge gefaßt, bin im Gespräch mit Ingenieuren und anderen, aber letztendlich werde ich meiner Intuition folgen müssen. Was ich weiß ist, daß der Sechste Schornstein 15 Meter hoch sein wird und daß der Bau so bald wie möglich beginnen soll.

Jan Svenungsson