Jan Svenungsson

Heymer, Kay. Etwas über L., Künstlerhaus Bethanien, Berlin 1996



Der Rahmen. Mit einem Rahmen wird eine Trennung vollzogen. Etwas wird in seiner Bedeutung hervorgehoben. Gleichzeitig dient der Rahmen dem physischen Schutz des Eingerahmten. Empfindliche Bildkanten etwa werden vor Kratzern und Beschädigungen bewahrt. Der Übergang vom Handwerk zur Umwelt wird durch den Rahmen sowohl betont als auch gemildert. Wird ein Gegenstand gerahmt, so bildet der Rahmen seine Welt, er bestimmt seine Grenzen, wird zum Bezugsrahmen des Gegenstandes.

Der Rahmen betont, schützt, begrenzt, distanziert. Der Rahmen ist Hintergrund.

In seltenen Fällen ist der Rahmen von derart entscheidender Bedeutung, daß er die Originalität seines - des von ihm umfaßten - Gegenstandes konstituiert. Ein gerahmtes Photo wird zum Bild.

In der Sprache bestimmt der Rahmen Anfang und Ende. Rechts und Links gibt es hier nicht. Die Sprache entwickelt sich linear, Verzweigungen führen notwendigerweise in Sackgassen und zu Brüchen. Der Faden einer Geschichte kann abgeschnitten und wieder aufgenommen werden. Geschichten können eine Rahmenhandlung aufweisen. Sie können auch mehrere Rahmenhandlungen haben, können konzentrisch gerahmt sein - verschachtelt. Sie können sogar aus dem Rahmen fallen.

Nicht nur einzelne Werke können einen Rahmen haben. Der erweiterte Rahmen kann das ganze Werk umfassen.
I.

Stellen wir uns L. vor. L. ist männlich (oder weiblich), Mitte 20, studiert Geisteswissenschaften, um das Denken (er - oder sie - ist noch nicht genau dahintergekommen, was das überhaupt ist - er (zur Vereinfachung bleiben wir bei "er", obwohl "sie" auch zutreffen könnte - im Verlaufe der Geschichte könnte diese Hypothese sich jedoch als falsch erweisen) hat vom "wilden" Denken ebenso gehört wie vom "wissenschaftlichen") zu trainieren. Zu L's Freunden gehören einige Künstler, für die er gelegentlich nachdenkt. Er steht im Dialog mit ihnen und schreibt kurze Texte für sie. Manchmal nur Worte. Einmal hat er auch eine Rede zur Eröffnung einer Ausstellung gehalten - eine beunruhigend offene Erfahrung.

L. wohnt in einem kleinen Apartment ganz in der Nähe der Universität, in einem Altbau vom Beginn des Jahrhunderts, senfgelb gestrichen. Er wohnt im 4. Stock und ärgert sich oft über das viele Treppensteigen und Büchertragen. Er ist an körperlichen Erfahrungen, die weder das Sehen noch den Tastsinn betreffen, nicht interessiert. Überhaupt ist L. unbeschreiblich unauffällig, fast eine unkörperliche Erscheinung. Er hat ein Gesicht ohne besondere Merkmale, worum ihn jeder Kriminelle beneiden müßte. Sein Aussehen kann man im Wortsinne vergessen.

Im Nebenhaus ist ein Café, gegenüber der Supermarkt, vor dem Haus der Briefkasten, um die Ecke das Antiquariat. Nur zur Bank muß er etwas weiter laufen, sonst ist alles in der Nähe. Die Universitätsbibliothek ist fünf Minuten entfernt. Er geht selten zur Bank, da er ohnehin nicht viel Geld zu verwalten hat.

L's Tagesablauf ist von beinahe ritualhafter Regelmäßigkeit bestimmt. Er steht gegen 8.00 Uhr auf. Frühstück. Kaffee, zwei Brötchen, ein Apfel. Universität von 9.30 - 18.00 Uhr, dazwischen Mensa. (L. ist kein Gourmet.) Abends Kino oder Konzert. 23.00 Nachtruhe. Nur die Wochenenden verlaufen anders - die Universität bleibt geschlossen. L. liest und schreibt in seiner Wohnung, oder er besucht Freunde. L's Leben ist arm an äußeren Ereignissen, das meiste spielt sich im Kopf ab. Ein fast mönchisches Leben, aber nicht aus irgend einer religiösen oder sozialen Ideologie heraus begründet.

L. will nicht über die zeitliche Begrenztheit seiner Lebensumstände nachdenken. Ginge es nach ihm, so könnte sein Leben in dieser Art weitergehen. Seine einzige Sorge ist das stetige Anwachsen der Bibliothek...

Ein Ereignis
Die meisten Erlebnisse, die L. als bedeutsame Ereignisse empfindet, spielen sich im Zusammenhang mit Büchern ab. Bücher, die er findet oder die ihm gezeigt werden. L's Besuche in der Universität reizen ihn nur insofern, als er neue Möglichkeiten bekommt, gegen die akademischen Regeln zu verstoßen, nach denen der Lehrbetrieb abläuft. Die Universitätsbibliothek ist ihm wichtiger als alle Veranstaltungen. An den Aufgaben - Thesenpapiere, Referate, Seminararbeiten usw. - interessiert ihn nur das, was am Rand des gestellten Themas angesprochen wird, niemals die Mitte. Diese eigentümliche Abweichung erscheint ihm selbst normal, da ihn schon immer die Details beschäftigten, die die anderen für belanglos hielten. Wenn Dinge einen Haken hatten, fielen sie ihm auf, und dieser Haken konnte sich in seinem Erinnerungsvermögen festsetzen, um sein persönliches Archiv zu erweitern. Der Haken ist eine Metapher, er kann alles mögliche beinhalten. Der Geruch frischgebackenen Brotes, der ihm als Jugendlichem eines Nachts durch seine warme Frische als Kontrast zur heruntergekommenen Atmosphäre einer Londoner Vorstadtstraße aufgefallen war, wurde zu einer seiner Madeleines. Bei dem großen Iren war es unter anderem Pferdeurin..., aber L. denkt noch nicht, zunächst wird das Ereignis beschrieben.

An diesem Morgen geht L. in die Universitätsbibliothek seiner Heimatstadt, um für die Ausarbeitung eines Referats Literatur über die Geschichte des Volkswagens zu finden. Das Thema ist ihm von Professor Wb aufgegeben worden, von sich aus hat L. kein gesteigertes Interesse an dieser Geschichte. Die Gefahr der Ablenkung ist daher gegeben. Die Bibliothek mit ihrer Größe, der Geschäftigkeit, dem Hall der Gespräche anderer Besucher und den Spinden, in denen man Mantel und Tasche aufbewahrt, erinnert ihn an ein städtisches Hallenbad. Die Bibliothek ist sehr groß und gehört zu den besseren Bibliotheken, in denen der Besucher selbst umhergehen kann, um die Bücher zu suchen, die er benötigt - oder um überhaupt Bücher kennenzulernen. Man ist erfreulicherweise nicht auf die Kartei angewiesen. Eine öffentliche Bibliothek ist ein hervorragender Raum für produktive Ablenkungen. L. schlendert also die Regale entlang und läßt seinen Blick über die Buchrücken streifen, die dicht an dicht vom Boden bis fast zur Decke des Raumes reichen. Plötzlich verharrt er fasziniert (fast wie ein Jäger, der das Wild erspäht hat) und greift sich ein Buch heraus, das er gar nicht gesucht hat. Es befand sich genau in seiner Augenhöhe im Regal und fällt ihm durch sein eigenartig stumpfes Senfgelb auf, das ihn an das Haus erinnert, in dem er wohnt (diese Erinnerung wird L. nicht bewußt). Auf dem Buchrücken steht das rätselhafte Wort 'ENKU' L. will herausbekommen, was es mit diesem Wort auf sich hat. Er geht zum nächsten Lesetisch, schlägt das Buch auf und liest: Grisha Dotzenko. Enku. Master Carver. Es ist eine Studie über den bedeutendsten Bildhauer Japans im 17. Jahrhundert, geschrieben von einem Russen, der in den Vereinigten Staaten lebt. Das Buch zeigt Hunderte von teilweise erstaunlich abstrakten Buddhafiguren, die oft auf eine Weise aus dem Holz geschnitzt wurden, die die Figur fast wie Daphne als Mischwesen aus Baum und menschlicher Gestalt erscheinen läßt. Zwischen den Seiten 38 und 39 fällt ihm ein Zettel mit Notizen in die Hände, die allem Anschein nach nichts mit dem Thema des Buches zu tun haben. Wer hat dieses eng beschriebene Blatt in dem Buch gelassen? Der Text scheint von einem Künstler zu handeln. Über dem Text steht in Klammern: "(Zu A.)" Es ist der Entwurf für einen Aufsatz, in dem polare Gegensätze eine wichtige Rolle spielen. L. liest:

Dieser Text ist eine Auftragsarbeit, ich bin Bestandteil des Plans, ich werde benutzt. Ich verfüge dabei aber auch über ein gewisses Maß an Freiheit, meine eigene Gedankenwelt der Kalkulation meines Auftraggebers zu entziehen. Ich soll Gedanken über meinen Auftraggeber und seine Handlungen entwickeln. Dabei bin ich frei und darf disziplinlos sein. (Ein wenig fühle ich mich wie Blue in Paul Austers Geschichte Ghosts.)

Dieser Text wird mehrmals geschrieben werden. Mit jeder neuen Kopie ändert sich etwas. Mein Vorgehen paraphrasiert das Vorgehen meines Auftraggebers - übersetzt es aber auch in mein Vorgehen. Das Kopieren spielt eine wichtige Rolle. Kopieren ergibt Veränderungen in der Wiederholung. Mein Auftraggeber hat vor kurzem eine Landkarte von Skandinavien als Umrißzeichnung angefertigt und diese in zwei Richtungen hin bis zur Unkenntlichkeit wieder und wieder kopiert. Jede Richtung folgt einer eigenen Regel. Einerseits wird erlaubt, Überzähliges wegzulassen und andererseits wird genau das verboten. Einmal wird die Vergrößerung und Fokussierung eines Details erzwungen, andererseits kommt es zu Verzerrungen, die ab einem bestimmten Stadium der Kopie nichts mehr mit der Urversion gemeinsam haben. Beide Veränderungen sind auf technische Unzulänglichkeit zurückzuführen, sie haben nichts mit Psychologie zu tun. Die zwei Serien von Kopien vereinen zwanghafte Kontrolle untrennbar mit fehlerhaften Aktionen. Für alles gibt es Regeln und nichts entspricht diesen Regeln vollkommen. Die Tätigkeit meines Auftraggebers besteht offenbar in dem ständig wiederholten Versuch - in unterschiedlichen Versuchsanordnungen - das Gleichgewicht zwischen Extremen zu finden und beizubehalten: Kopie und Original, Disziplin und Verstoß, Fremdkontrolle und Selbstkontrolle, Erfinden und Finden, Arbeiten und Arbeiten lassen, Vernunft und Intuition...

In jedem Augenblick kann etwas im Licht gegensätzlicher Möglichkeiten und Forderungen gesehen werden. Ein Phänomen mit dieser Sichtweise anzureichern bedeutet, es zum Leben zu erwecken. Ich arbeite an einer Sache, nur wenn sie interessant oder verführerisch genug ist.

Fast erscheint L. dieser handschriftliche, mit einem M. unterschriebene Zettel wie eine Schilderung seiner eigenen Haltung. Ist es die Stadt, die ihre Bewohner zu ähnlichen Ansichten führt? Aber wie kam der Text in dieses Buch - einen von 4 Millionen Bänden der Bibliothek? Und ausgerechnet in ein Werk über einen japanischen Bildhauer aus dem 17. Jahrhundert. L. ist ratlos. Als er jedoch das Buch halb entschlossen weiter durchblättert, beginnt der Inhalt des Zettels, den er gerade gelesen hat, sich auf sein Sehen auszuwirken. Ihm fällt die im Text mehrfach betonte Bedeutung der Kopie wieder ein, besonders im Hinblick auf Veränderungen. Enku, so liest er, war für seine Fähigkeit berühmt, in sehr kurzer Zeit Tausende von Buddhas aus einem Baumstamm zu schnitzen, Kopien in einer klaren, geregelten Formensprache, von denen jede anders ist und doch ihrem Nachbarn gleicht. Im Werk Enkus scheint die Konstanz in der Kopie jedoch entscheidend zu sein. L. hat zwei unterschiedliche Prinzipien entdeckt, die für den Prozeß des Kopierens als Antrieb dienen können: Veränderung und Konstanz oder Variation und Imitation. Gegensätze. L. steckt den Zettel ein, beschließt, sich die Handschrift der Notizen genau zu merken und verläßt die Bibliothek, ohne mit seiner eigentlichen Arbeit ein Stück weitergekommen zu sein.

Ein Dia
Am folgenden Tag besucht er eine Vorlesung von Professor Mmh zur Geschichte der Anthropologie, und hier begegnet ihm überraschenderweise wieder das Thema der Kopie. Es geht um Theorien zur Entwicklung der Ornamentik, die im späten 19. Jahrhundert lebhaft diskutiert wurden. Geprägt vom Darwinismus entwickelten englische Ethnologen damals eine Theorie, die Abstraktion für das degenerierte Ergebnis der fortwährend wiederholten, schematischen Kopie eines naturalistischen Urbildes durch nachfolgende Generationen von Kunsthandwerkern hielt. Professor Mmh zeigt ein Dia aus Henry Balfour's Werk The Evolution of Decorative Art von 1893. Es zeigt 14 Stufen eines gezeichneten Urbildes und seiner Kopien, die immer von anderen Zeichnern nach der jeweils vorigen Kopie angefertigt wurden. In dieser europäischen Versuchsanordnung zeigt das Urbild eine naturalistisch wiedergegebene Schnecke, die über einen Ast kriecht. Die folgenden Kopien werden nach und nach schematischer, bis schließlich, in der achten Kopie, der erzählerische Zusammenhang verlorengeht - die Schnecke ist kaum noch zu erkennen, die Räumlichkeit der Darstellung ist einer eindeutigen Flächigkeit gewichen. Die sinnlosen Zeichnungen 9 bis 10 waren für den folgenden Kopisten Nr. 11 offenbar unerträglich, und so erfand er ein neues Motiv - einen auf dem Kopf stehenden Vogel. Die Orientierung des Blattes wird geändert, und die folgenden Kopien zeigen einen immer deutlicher werdenden, ornamental wiedergegebenen Vogel. In dieser Serie von Zeichnungen erscheint Abstraktion als Degeneration. Das Kopieren wirkt wie eine konventionalisierte Tätigkeit, die zu ständiger Vereinfachung und Reduzierung neigt. Das Ergebnis wären sinnlose Formen, und jede Kopie wäre schlechter als ihr Vorgänger, wenn nicht der Kopist immer den Zwang empfinden würde, doch etwas Gegenständliches sehen zu wollen, das auf der vorangegangenen Kopie so vielleicht gar nicht zu sehen war.

L. überlegt. Wie wäre es, wenn von vornherein kein Zusammenhang zwischen einem erzählerischen Inhalt der Darstellung und den formalen Qualitäten des Dargestellten bestehen wurde? Ist die im Laufe des Kopierens erfolgende Wandlung notwendigerweise eine negative Entwicklung? Das Experiment wurde von Menschen durchgeführt, die noch überhaupt keine Vorstellung von einer Kunst hatte, in der der Gegenstand verschwunden ist. Kandinsky kam ja erst zwanzig Jahre später. L. fragt sich, wann eine Darstellung überhaupt wert sein kann, kopiert zu werden - und wer legt das fest?

Im Atelier
Am folgenden Nachmittag besucht L. einen Freund, den Maler N. Er hat N. länger nicht gesehen und ist gespannt auf seine neuen Bilder. Das Atelier ist im Erdgeschoß eines Hochhauses aus den 60er Jahren, ein ehemaliges 2-Zimmer-Apartment. L. mag Ateliers, das scheinbare Chaos von herumliegenden Werkzeugen, Rahmen, Wagen, Stühlen, dem obligatorischen Cassettenrecorder, herumstehende Bier- und Colaflaschen, an der Wand lehnende Bilderstapel, den Geruch von Ölfarben. N. hat sich auf den Besuch anscheinend vorbereitet, denn drei der Wände des großen Raumes sind mit einer Reihe von neuen Bildern vollgehängt, es ist fast eine kleine Ausstellung. L. wußte von N's Vorliebe für Rottöne, fast all seine Bilder, die er bis dahin gesehen hatte, waren in Rottönen gehaltene Landschaften. L. hatte diese Beschränkung auf eine Farbe schon immer als eigenartig empfunden. Zusammen mit der sehr kleinteiligen malerischen Handschrift wirkten N's rote Landschaften auf ihn immer verstörend distanziert. Die Rottöne, die N. zu bevorzugen schien, waren sehr kühle, fast anorganische Töne. N's Bilder waren seltsam gebrochen zwischen Künstlichkeit und naturhafter Sinnlichkeit. In ihnen schienen unerfüllte Sehnsüchte zu stecken. Und sie erinnerten ihn an Photographien mit einer ganz eigenen Unschärfe.

Doch nun, bei diesem Atelierbesuch ist alles anders. Das Rot ist geblieben, aber L. sieht sich konfrontiert mit einer Reihe von Blutflecken an der Wand. L. ist schockiert, mit so aggressiven und direkten Bildern hat er nicht gerechnet. Er bemüht sich, seine Fassung zu wahren, und tritt dicht an eines der Bilder heran. Nun kann er dieselbe malerische Handschrift wiedersehen, die er von N's melancholischen Landschaften her kannte, und ihm wird mit einem Schlag bewußt, daß diese Bilder überhaupt nicht direkt, sondern Kopien sind. Kopien von Blutflecken? Ist N. auf dem Schlachthof gewesen, um Motive zu suchen? Und wieso hat er die Mühe auf sich genommen, die Blutspritzer abzumalen, anstatt wie Pollock oder Nitsch vorzugehen? Das wäre doch viel schneller zu machen gewesen. Hat N. überhaupt Blutflecken abgemalt, oder ist dies nur eine Assoziation - eine Illusion? L. ist verunsichert. N. sagt ihm, daß er diese Bildreihe "Test" genannt und die Bilder einfach durchnumeriert habe. Also ist dies wieder eine Versuchsanordnung, in der das Potential des Kopierens untersucht wird. Hier ist eine Reihe von Kopien nach einer Reihe von "Originalen" gemacht worden. Wo sind aber die "Originale" geblieben? Immerhin sind diese Bilder hier Ölbilder - auf Leinwand oder Holz gemalt, mit teilweise beträchtlichen Formaten. Man hat also etwas in der Hand, im traditionellen Sinne wertvolle, mit der Hand gemalte Bilder, nicht nur Zeichnungen. Es sind dies Bilder, die zu behaupten scheinen, daß alle Bilder Kopien sind.

Waren Original und Kopie gar keine Gegensätze? L. hatte immer in Gegensätzen gedacht und sich damit in der Welt zu orientieren versucht. Die verschiedenen Formen der Kopie beginnen nun, seine sichere Orientierung zu verunsichern. L. fährt nach Hause und stellt Gegensatzpaare auf, in der Hoffnung, daß sie nach wie vor stimmen. Er schreibt auf einen Zettel:

Original Kopie
Handwerk Fabrikation
Willkür Zwang
Malerei Photographie
Schreiben Beschreiben
Zufall Absicht
Poesie Theorie
Erfindung Gebrauchsanweisung
Regel Verstoß
Frage Antwort
Chaos Ordnung

und setzt ein Fragezeichen darunter.
II.
Ein Buch
L. geht durch die Stadt. Er ist in seinem Viertel unterwegs, hier kennt er sich aus. Er geht gerade über die Brücke des Flusses, der die Stadt in die industriell geprägte Nordhälfte und die südliche Büro- und Kulturhälfte teilt. Von der Brücke aus kann er die Silhouetten der vielen Fabriken und Stahlwerke mit Schloten und Schornsteinen in verschiedenen Größen sehen. Alle rauchen, in der Stadt wird gearbeitet. Das Bild der rauchenden Schornsteine prägt sich L. ein. Er denkt an seinen Freund O., der in unterschiedlichen Städten 3 Schornsteine gebaut hat, die niemals rauchen.

Bevor L. in sein Apartment zurückgeht, sucht er das Antiquariat in seiner Nähe auf. Der Buchhändler, ein kleiner, grauhaariger Mann von etwa 60 Jahren, erzählt ihm, daß er gerade den Nachlaß des kürzlich verstorbenen Kunsthistorikers Mk gekauft habe und daß bei den vielen Büchern sicher auch etwas für ihn dabei sei. L. schaut durch die Stapel der neuangekommenen Bücher. Da er nicht viel Geld dabei hat, hofft er auf ein kleines, preisgünstiges Buch, das für ihn interessant sein könnte. Ein dünner Katalog über Giorgio de Chirico von 1985 kommt ihm in die Hände, und beim Durchblättern des Heftes sieht er die Reproduktion einer Zeichnung, die ihn an seinen Blick von der Brücke und an O. erinnert. Die Zeichnung zeigt einen Schornstein in der freien Landschaft, nur von einem kleinen Bauwagen begleitet. Dieser Schornstein raucht nicht, er ist eine reine Form. O's Schornsteine, von denen L. nur einen einzigen in natura sehen konnte, scheinen wie die Erfüllung dieser Idee de Chiricos zu sein: O's Schornsteine sind so real, wie sie auch Bilder von Schornsteinen sind. Original, Bild und Kopie sind ineins gefallen. L. kauft den Katalog und beschließt, ihn O. zu zeigen, wenn er ihn das nächste Mal sieht.

Noch ein Zettel
Aus einem Bücherstapel der Neueingänge des Antiquariats schaut ein mit Schreibmaschine beschriftetes Blatt heraus, das durch sein ebenmäßiges Schriftbild L's Neugier weckt. Er zieht den Zettel heraus und liest:

Die zwei Arten der Verschachtelung

1. DIES IST DIE GESCHICHTE EINES MANNES, der in einer Bibliothek ein Buch aufschlägt und einen Zettel findet, auf dem die Geschichte eines Mannes erzählt wird, der in einer Bibliothek ein Buch aufschlägt und einen Zettel findet, auf dem die Geschichte eines Mannes erzählt wird, der in einer Bibliothek ein Buch aufschlägt und einen Zettel findet, auf dem die Geschichte eines Mannes erzählt wird, der in einer Bibliothek ein Buch aufschlägt und einen Zettel findet, auf dem die Geschichte eines Mannes erzählt wird, der in einer Bibliothek ein Buch aufschlägt und einen Zettel findet, auf dem die Geschichte eines Mannes erzählt wird, der in einer Bibliothek ein Buch aufschlägt und einen Zettel findet, auf dem die Geschichte eines Mannes erzählt wird, der in einer Bibliothek ein Buch aufschlägt und einen Zettel findet, auf dem die Geschichte eines Mannes erzählt wird, der in einer Bibliothek ein Buch aufschlägt und einen Zettel findet, auf dem die Geschichte eines Mannes erzählt wird, der in einer Bibliothek ein Buch aufschlägt und einen Zettel findet, auf dem die Geschichte eines Mannes erzählt wird, der in einer Bibliothek ein Buch aufschlägt und einen Zettel findet, auf dem die Geschichte eines Mannes erzählt wird, der in einer Bibliothek ein Buch aufschlägt und einen Zettel findet, auf dem die Geschichte eines Mannes erzählt wird, der in einer Bibliothek ein Buch aufschlägt und einen Zettel findet, auf dem die Geschichte eines Mannes erzählt wird, der in einer Bibliothek ein Buch aufschlägt und einen Zettel findet, auf dem die Geschichte eines Mannes erzählt wird, der in einer Bibliothek ein Buch aufschlägt und einen Zettel findet, auf dem die Geschichte eines Mannes erzählt wird, der in einer Bibliothek ein Buch aufschlägt und einen Zettel findet, auf dem die Geschichte eines Mannes erzählt wird...

2. DIES IST DIE GESCHICHTE EINES MANNES, der in einer Bibliothek ein Buch aufschlägt und einen Zettel findet, auf dem die Geschichte eines Mannes erzählt wird, der eine Festung verläßt, deren Tor er mit dem einzigen Schlüssel verriegelt hat und den er darauf zurück über die Mauer in die Festung geworfen hat, wo er in einen Gully gefallen ist und durch die Abwasserkanäle aus der Festung hinausgeschwemmt wurde, um dem Mann wieder an einer Biegung des aus der Festung hinausfließenden Bachs vor die Füße gespült zu werden, da der Mann, um keine Spuren zu hinterlassen, durch eben diesen Bach watete, der auf einen größeren Fluß hin führt, an dessen Ufer der Mann wartet, bis ein Fahrzeug vorbeikommt, das ihn zur nächsten Stadt mitnehmen kann, in der er eine Fabrik besichtigen will, die einen großen Schornstein am Südende ihrer Werkstatthalle besitzt, der rund um die Uhr, sieben Tage in der Woche in Betrieb ist und von vielen lokalen Photographen als Motiv für ihre Bilder verwendet wird, da er mit seinem sorgfältigen Ziegelmauerwerk ein Beispiel hervorragender Industriearchitektur abgibt, das sich von der üblichen, neueren Betonarchitektur abhebt und zur Förderung des Klischees der Stadt als einer alten Industriemetropole den Kulturpolitikern der Stadt als geeignet erscheint, was auch den Mann in diese Stadt gelockt hat, wo er diesen Schornstein als weiteres Industriedenkmal in seine noch unveröffentlichte Dokumentation über frühe Großstadtarchitektur aufnehmen will, für die er von einem Verleger beauftragt wurde, den er anläßlich einer Buchmesse kennenlernte...

Kay Heymer