Jan Svenungsson

"Binäre Grauwerte", in: Portfolio No 8, Griffelkunst-Vereinigung, Hamburg 2014



Wie positioniere ich mich als Künstler, um gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken? Will und kann meine Kunst ein politisches Werkzeug sein? Was kann ich damit erreichen? Und wie? Wo warten die Widersprüche?

Thomas Kilpper begann in den späten Siebzigerjahren in Nürnberg und in Düsseldorf Kunst zu studieren. Es war eine Zeit der Politisierung und des Protestes: gegen Atomkraft, gegen die Stationierung von neuen Nuklearraketen auf deutschem Boden, gegen die repressive Reaktion des Staates auf die außerparlamentarische Opposition. Diese Atmosphäre der intensiven politischen Debatten fiel für Kilpper mit seinem eigenen Bruch mit der Weltanschauung seiner Eltern, die der Kriegsgeneration angehörten, zusammen. Nach drei Jahren trifft er die Entscheidung, das Kunststudium abzubrechen, um sich ganz für den politischen Widerstand und den gesellschaftlichen Wandel einzusetzen.

Rund 15 Jahre später kommt Kilpper über Umwege zurück zu dem, was er ursprünglich machen wollte: Kunst. Noch einmal wechselt er seinen Werkzeugkasten, jetzt um auf die Ambivalenzen der Welt künstlerisch Bezug zu nehmen. Er immatrikuliert sich an der Städelschule in Frankfurt und findet dort schon bald seinen Modus Operandi, der ihn seitdem begleitet.

Am Städel arbeitet Kilpper zunächst an großen Städtezeichnungen, die auf Erinnerungen beruhen und mit Holzkohle ausgeführt sind. Allerdings wünscht er sich mehr Widerstand von seinem Material. Seine Suche nach einer mehr entschiedenen, konkreten Arbeitsweise führt ihn zum Holzschnitt. Von allen Drucktechniken ist der Holzschnitt die älteste; sie ist am ausgeprägtesten körperlich – und sie ist binär. Das bedeutet: entweder behalten oder wegschneiden, entweder Schwarz oder Weiß. Es gibt kein Dazwischen, keine Graustufen. Der Holzschnitt wurde ursprünglich vor 2000 Jahren in China erfunden und in Europa um 1400 wiederentdeckt, wo er innerhalb kurzer Zeit eine Explosion der Medienentwicklung ausgelöst hat. Gutenbergs Erfindung der beweglichen Lettern basierte auf Holzschnitt-Technologie. Der Buchdruck ermöglichte die Verlagsindustrie, die schließlich die Massenmedien hervorgebracht hat. In gewisser Weise ist das ganze Feld unserer heutigen globalen Kommunikation ein Kind dieser Drucktechnik: ohne Holzschnitt kein Internet.

Ohne Genehmigung, gleich einem Hausbesetzer, dringt Kilpper in die leerstehende, zum Abriss bestimmte ehemalige sowjetische Militärmission in Frankfurt ein. Während einer intensiven Woche schneidet er direkt in deren Parkettboden ein riesiges Bild. Es bleibt gerade noch Zeit, einen Abdruck davon zu nehmen, bevor er vom Abbruchunternehmer entdeckt und wegen Zerstörung von Eigentum mit strafrechtlicher Verfolgung bedroht wird. Am nächsten Tag beginnen die Abrissarbeiten an dem Haus. Hier hat Kilpper die Idee gefunden, die seitdem für seine Arbeit zentral geblieben ist: Bilder in Böden zu schneiden, um ihre soziale Geschichte in verschiedenen Aspekten freizulegen und sich selbst darin zu reflektieren. Texte, Sätze oder historische Geschehnisse treffen auf Porträts: Politiker und Protagonisten unterschiedlicher Art. Medienbilder, die Erinnerung beleben und Handlungen oder Standpunkte symbolisieren. Kilpper arbeitet weder mit neutralen Materialien, noch mit neutralen Ideen. Er möchte sich mit der Geschichte sowohl als physische Realität als auch als Bildform auseinandersetzen.

Sämtliche dieser Aspekte kommen zum ersten Mal zum Tragen, als er 1999 die verlassene Kaserne „Camp King“ in Oberursel (in der Nähe von Frankfurt) findet – und zu seiner Überraschung die Erlaubnis erhält, darin zu arbeiten. Vor und während des Krieges war das Gebäude durch das NS-Regime genutzt worden. Nach dem Krieg wurde hier, unter der Leitung von Reinhard Gehlen, die Vorläuferorganisation des Bundesnachrichtendienstes etabliert. Eine ähnliche Aufgabe besaß Gehlen bereits während des Hitlerregimes. Später war „Camp King“ Militärstützpunkt der CIA. Kilpper darf hier ein Jahr lang arbeiten, um ein riesengroßes, facettenreiches Bild in den Holzboden der Turnhalle zu schneiden. Zwischen den vielen Teilen seiner Komposition schlängeln und weben sich folgende Worte hindurch: „Wo bitte schön kann ich meine Grauwerte wiederfinden?“.

Seitdem arbeitet Thomas Kilpper ortsspezifisch. Er schneidet seine Bilder in das vorgefundene Material, hauptsächlich Holz – und nimmt Drucke davon. Jede tonale Ambiguität in der Optik der Bilder – alle Grauwerte –, können nur als sorgfältig konstruierte Illusionen erreicht werden: d.h. durch das Ausgleichen von Linien und Farbpunkten mit ihren negativen Formen.

Welche Rolle spielen denn Grauwerte, wenn es um Inhalte geht? Im dänischen Pavillon auf der Biennale in Venedig im Jahr 2011 verknüpft Kilpper eine Porträtgalerie gegenwärtiger Persönlichkeiten, die politisch nach rechts tendieren, mit der Frage „How to get rid of ‘em“ (Wie sind sie loszuwerden). In der Debatte über „State of Control“, seinem gigantischen Boden-Porträt-Panorama in der ehemaligen Kantine der Stasi-Zentrale in Ost-Berlin von 2009, wird er von einigen kritisiert, sein Netz zu breit geworfen zu haben. Hier schließt er auch Figuren ein, die nicht unmittelbar mit der Situation in der DDR assoziiert werden. Wer ist hier der Agent Provocateur? Ist es für einen Künstler überhaupt vorstellbar, genau das zu sagen, was auf den Oberflächen seiner Bilder zu sehen ist? Bis zu welchem Grad ist es möglich, die Kunstwelt – die Galerie – die Installation – als Plattform für politische Aussagen zu verwenden, ohne, dass diese – durch die Kunst – neutralisiert werden? Wie kann man den Erfolg eines Künstlers beurteilen und bewerten, der versucht, seine Kunst auch als Werkzeug für etwas außerhalb der Kunst zu verwenden? Und: ist dies bei Kilpper der Fall?

Vielleicht ist es gerade diese Art von Fragen, die erklären, warum die Bodenschnitte für Kilpper so attraktiv geblieben sind. Bilder in Holz oder Linoleum zu schneiden ist konkret und bedeutet Arbeit im traditionellen, fast romantischen Sinne. Muskelstärke und präzise motorische Sensibilität sind notwendig. Werden die Bilder standortspezifisch geschnitten, sind sie fest in das Material eingebunden. Ehrlich. Jedes Zeichen ist die unmittelbare physische Spur einer entschiedenen Handlung, eine Spur von Anwesenheit und Engagement.

Kilpper hat seine praktische künstlerische Vorgehensweise aus der Notwendigkeit heraus entwickelt. Beim Arbeiten vor Ort ist die Zeit meistens streng begrenzt und Effizienz notwendig. Die Bildquelle muss schnell und unkompliziert übersetzt werden. Sehr rationell projiziert Kilpper sein Photo von oben und fängt meist ohne Vorzeichnung an, die hellen Flächen – das Licht – wegzuschneiden. Der Zeitdruck kann sogar zu einem gewissen Automatismus führen, was die Detailarbeit der unterschiedlichen Bilder betrifft. Wie der Künstler damit umgeht, kann unterschiedliche Grade von Empathie mit den abgebildeten Persönlichkeiten andeuten, ohne dass dahinter ein System steckt. Für State of Control arbeitete Kilpper mit einem Team von Assistenten: hier sind nicht nur seine eigenen Empfindungen und Erfindungen involviert. Die Zeitnot führt manchmal auch zu Abkürzungen. Eine Figur kann aus einem Raster aus Punkten und Linien aufgebaut und trotzdem mit einer einfachen Konturlinie fertiggestellt sein. Die Bildquelle ist Hilfsmittel, nicht Original. Der Künstler besteht auf seiner Freiheit. Der Betrachter kann sich in die übergreifende Bedeutung eines Projektes hineinbegeben, aber auch mit dem Studium der Bilddetails beschäftigen.

Ungewöhnlich für einen Künstler, der mit Drucktechniken arbeitet ist, dass Kilpper in seinen Projekten kaum Auflagen produziert. Er druckt meist nur wenige Abzüge – Unikate – von Abschnitten seines großen Druckstocks – des Bodens – auf unterschiedliche Papiere oder Stoffe. Das Papier ist manchmal vorgefärbt, der Stoff vielleicht aus mehreren Stücke zusammengenäht. Hier ist das geschnittene Bild – das Negativ – das primäre Original. Der Druck wird zum indexikalischen Ausdruck der Aktion, die das Bild irreversibel mit der Geschichte eines Standortes zusammengeführt hat. Idealerweise werden Druck und Schnitt gemeinsam gezeigt. Als Besucher der Ausstellung bewege ich mich zwischen Positiv und Negativ. Die Logik des Holzschnitts führt vor, dass mir ein Text nur in einer Form lesbar erscheint, entweder im Schnitt oder im Druck, niemals in beiden. Ein Politiker, der im Schnitt nach links geneigt ist, lehnt sich auf dem Druck nach rechts. Und umgekehrt.

Es gibt Grauwerte, die binär bleiben werden.

Jan Svenungsson